Mittwoch, 9. Mai 2012

"Apartheid" im Europa des XXI. Jahrhunderts (Beitrag aus Sarajevo)

Der kleine Haris wachte zwar etwas müde auf, jedoch einigermaßen glücklich, weil er an diesem Tag eine Doppelstunde seines Lieblingsfaches Englisch haben sollte. Unschuldig wie immer setzte er sich in Gang und lief langsam gen seiner Schule. Wie jeden Morgen traf er auf dem Weg seinen Freund Ivan, der nur zwei Straßen weiter lebte und mit dem Haris gut befreundet war, obwohl das seine Eltern und Nachbarn nicht gerne sahen. Eine knappe halbe Stunde später waren sie vor dem Schulgebäude. Die beiden waren in einer Diskussion darüber vertieft, wessen Spielkartendeck wohl besser ist, Ivans oder doch das von Haris. Dieses Gespräch wollten sie nach der Schule beenden, weil sich ihre Wege nun vor den Schultoren trennte. Wie jeden Morgen müssen die zwei Freunde verschiedene Eingänge benutzen. Der Grund dafür ist, dass Haris ein Bosniake, also ein bosnischer Muslime ist und Ivan ein bosnischer Kroate, also ein Katholik ist. Die beiden müssen in streng getrennten Schulgebäuden verweilen und zwar nur mit Kindern, die ihrer eigenen Ethnie angehören. 

Mit den “Anderen” dürfen sie keinen Kontakt pflegen. Physisch getrennt, nach komplett anderen Schul-programmen lernend und von den Lehrern einem leichten “Brainwashing” unterzogen, müssen Kinder von kleinauf aufwachsen. Einige haben das Glück von toleranten Eltern erzogen zu werden, die ihnen das Gegenteil zeigen von dem, was sie in der Schule gelehrt bekommen. Andere Kinder werden von den Ihrigen auf gleiche Weise erzogen wie in der Schule und schaffen dadurch Distanz und Hass gegenüber den “anderen”. Ein grauenvoller Gedanke, dass Kinder nur wegen ihrer Ethnie oder Religion anders behandelt werden und nur mit ihrer eigenen Ethnie Kontakt haben dürfen. 

So eine Geschichte muss doch sicher Fiktion sein, oder? Doch was, wenn die kurze Geschichte vor der eigenen Haustür passiert? Was wenn “Apartheit” in Europa überlebt hat?  EBEN GENAU DAS HAT SIE!!! Diese Kurzgeschichte war ein fiktives Beispiel dafür, was tagtäglich in Kleinstädten in Zentralbosnien passiert.


Warte mal, Zentralbosnien? War das nicht irgend so ein judoslawisches Land? 

Genau, Bosnien und Herzegowina ist ein souveräner Staat in Südost-Europa, in dem in den 90er Jahren einer der grausamsten Kriege des XX. Jahrhunderts geführt wurde. Seit dem Dayton-Friedensabkommen von 1995 ist das Land politisch in zwei Entitäten geteilt – der Republika Srpska, dem serbischen Teil, und der Föderation, die aus Bosniaken und Kroaten besteht. Mit dem Krieg und auch nach ihm kam es zu starken Migrationen. Dadurch änderte sich radikal die demografische Karte des Landes.  

In einigen Städten besteht eine demografische Mehrheit nur einer Ethnie, während in anderen eine Gleichheit existiert. In solchen Gemeinden kommt es oft zu Spannungen. Die meisten solcher Kleinstädte gibt es in Zentral- und Südbosnien, wie z.B. Travnik, Vitez, Mostar, Stolac, Fojnica, Maglaj, Novi Seher. In solchen Städten ist die Prozentzahl von bosnischen Muslimen und bosnischen Katholiken fast gleich. (Die Seiten sind geteilt und es herrscht nur schwache Harmonie.) Die Kinder werden nach verschiedenen Lehrplänen unterrichtet, die Kroaten lehnen sich an den Lehrplan aus dem benachbarten Kroatien, und die Bosniaken arbeiten nach dem Lehrplan aus der Föderation. Demzufolge werden verschiedene Lehrbücher verwendet, insbesondere in Fächern wie Landeskunde, Geschichte und der Muttersprache. Obwohl die linguistischen Unterschiede zwischen dem Kroatischen und dem Bosnischen minimal sind, werden diese aufgepuscht und ihnen wird Wichtigkeit zugeschrieben, um einen “Unterschied” zwischen den Ethnien zu verdeutlichen. Genauso konzentrieren sich die bosnischen Kroaten im Geschichts- und Landeskundeunterricht mehr auf Kroatien, während sich die Bosniaken eher auf das Land in dem sie leben konzentrieren. Zusätzlich werden die Kinder physich voneinander getrennt, wie im Falle Travnik wo die Schulhöfe mit Zäunen getrennt sind. Unter Anderem ist der kroatische Teil der Schule komplett renoviert worden, während der andere Teil jeden Tag mehr verfällt.

Die Lehrer und Politiker hegen oft Vorurteile gegenüber den anderen und geben diese an die Kinder weiter. 

Greta Kuna, die damalige Bildungsministerin des Kantons Mittelbosnien, schockierte die Öffentlichkeit 2007 mit ihrer unsensiblen Aussage: «Das Projekt der Zwei Schulen unter einem Dach wird nicht abgeschafft werden, weil man Äpfel nicht mit Birnen mischen kann. Die Äpfel zu den Äpfeln und die Birnen zu den Birnen.» 

Dazu kommen noch die Eltern, die entweder tolerant sind und die Kinder dementsprechend erziehen oder die Meinung der Lehrer unterstützen und den Völkerhass pflegen. Unter den Kindern ist das Denken ebenfalls geteilt. Während die einen den Hass und die Aversion annehmen, würden die anderen gerne Kontakt haben mit der “befeindeten” Ethnie. Vor allem die Grundschulkinder wissen oft nicht, wieso diese Trennung besteht und die Eltern haben dann Probleme, dies zu erklären und geben als Antwort ein nüchternes “Das ist halt so”.



Daraus gehen folgende Konsequenzen hervor: die Kluft zwischen Ethnien vertieft sich, es finden keine Fortschritte hinsichtlich des Zusammenlebens statt, die Spannung zwischen den Ethnien wird aufrechterhalten, Kinder werden falsch informiert und dadurch werden zukünftige Generationen mit Vorurteilen und falscher Denkweise erzogen…

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